Machtkampf

„Ich habe dich schon wieder nicht erreicht“, sage ich. „Nie hast du dein Handy dabei, wenn ich dich brauche.“ – „Ich war doch nur für zehn Minuten im Blumengeschäft, da nehme ich doch nicht das Handy mit“, sagt meine Frau. „Du willst mich nur kontrollieren.“ – „Kontrollieren?“, sage ich. „Ich wollte einen Termin mit dir abstimmen!“

Schuldzuweisungen sind die Waffen des Machtkampfes, der entsteht, wenn die emotionale Verbindung zum Partner oder anderen nahestehenden Personen verloren gegangen ist. Sie werden eingesetzt im Kampf um das Rechthaben. Doch ist es wirklich so wichtig, immer im Recht zu sein? Mahatma Gandhi sagte dazu: „Wo Ungerechtigkeit herrscht, bin ich immer für den Kampf gewesen. Die Frage ist nur: Kämpft man, um etwas zu ändern oder um zu bestrafen. Ich bin der Ansicht, wir sollten das Bestrafen Gott überlassen.“

Einem Machtkampf mit dem Partner oder anderen Mitmenschen geht das Beobachten eines vermeintlich eigenartigen Verhaltens voraus. Wenn sich jemand mir gegenüber seltsam verhält, bin ich geneigt, mich zu verteidigen, und so ergibt ein Wort das andere. Doch: Das Verhalten des anderen ist ein Überlebensmuster, das er von klein auf gelernt hat.

Meine Verteidigung ist übrigens ebenso ein Überlebensmuster. Doch der Impuls, lieber den anderen zu verändern als sich selbst, ist groß. Wenn ich mich darüber ärgere, dass meine Frau schon wieder nicht erreichbar ist, ist es einfach, ihr das vorzuhalten und ihr zu sagen, sie solle ihr Handy einstecken. Doch damit werde ich kaum etwas bewirken.

Der Blick auf das eigene Überlebensmuster, das ich reflexartig an den Tag lege, lohnt sich immer. Ich helfe mir mit dem Theaterblick: Ich setze mich in die Loge und sehe auf der Bühne meines Lebens die Telefonszene. Ich gewinne Distanz zu mir, zum Problem, zum Verhalten meiner Frau. Ich erkenne schließlich, dass mein Ärger nichts anderes ist als das hartnäckige Überbleibsel einer in der Kindheit erfahrenen Einsamkeit. Diese Selbstreflexion ist anstrengend. Doch sie gibt mir die Möglichkeit, die Perspektive zu wechseln und möglicherweise in meiner Beziehung sogar eine neue Tradition einzuläuten.

Dieser Beitrag wurde im Mai 2014 in der Serie „Gedanken für den Tag“ von Ö1 ausgestrahlt. Alle Beiträge der Bösels zur Serie „Gedanken für den Tag“:

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